Angewandte Linguistik und das Tätigkeitsfeld Aufklären
Jetzt kommt die Sprachpolizei!

Seit 1991 kürt eine institutionell unabhängige, ehrenamtlich agierende Jury das sog. „Unwort des Jahres“ – davon haben Sie bestimmt alle schon einmal gehört oder sind unbewusst in Ihrem Alltag auf diese „Unwörter“ gestoßen. 2021 hat die Jury – die aktuell aus vier Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftlern sowie einer Journalistin besteht – das Wort Pushback zum „Unwort des Jahres“ ernannt. Auf Platz 2 landete der Begriff Sprachpolizei. Vorgeschlagen wurden diese und weitere Wörter von engagierten Bürgerinnen und Bürgern, denen sie im alltäglichen öffentlichen Sprachgebrauch zuvor negativ aufgefallen waren.
Pushback:
Der Ausdruck Pushback stammt aus dem Englischen und bedeutet ‚zurückdrängen, zurückschieben‘. Er kommt häufig in militärischen Kontexten vor, z. B.: Einen Gegner, einen Angriff zurückdrängen. Im Migrationsdiskurs wurde das Wort für die Praxis europäischer Grenztruppen verwendet, Flüchtende am Grenzübertritt gewaltsam zu hindern. Ganz unterschiedliche Politiker:innen, Journalist:innen und Organisationen verwendeten im Jahr 2021 dieses Wort in Debatten über Flucht und nahmen dabei – bewusst oder unbewusst – in Kauf, dass Flüchtlinge als Feinde gesehen werden können und überdies die mit den abweisenden Aktionen verbundenen gewaltsamen Handlungen sowie die Verletzung des Grundrechts auf Asyl unausgesprochen bleiben.
Sprachpolizei:
Mit dem Ausdruck „Sprachpolizei“ werden Personen in diffamierender Absicht bezeichnet, die sich u. a. für einen angemessenen, gerechteren und nicht-diskriminierenden Sprachgebrauch einsetzen, der auch bisher benachteiligte und ausgegrenzte Gruppen sprachlich einschließt. Die Jury bewertet ihn als irreführend, weil er suggeriert, dass es eine exekutive Instanz gäbe, die sich anmaßt, über die Einhaltung von Sprachregeln zu wachen und bei Nichteinhaltung Bestrafungen vorsehe oder Bestrafungen durchsetze.
Nichts formt unseren Alltag so wie unsere Sprache – das betrifft sowohl unser zwischenmenschliches Miteinander als auch unser Weltbild. Ziel der Aktion „Unwort des Jahres“ ist es, sprachkritisch auf diskriminierenden, stigmatisierenden, euphemisierenden, irreführenden oder menschenunwürdigen Sprachgebrauch aufmerksam zu machen. Deshalb sind Angewandte Linguistinnen und Linguisten in diesem Bereich natürlich keine negativ konnotierte Sprachpolizei, sondern sie sensibilisieren und klären zurecht über sprachbezogene Probleme in der Gesellschaft auf.
Sprache sorgt für Probleme?
Haben Sie in den letzten Jahren vielleicht sogar selbst Wörter und Formulierungen aus Ihrem Sprachgebrauch gestrichen? Sprachliches Aufklären ist genau dann gefragt, wenn Sprache in irgendeiner Form zu Schwierigkeiten und Problemen führt.
Einerseits kann das der Fall sein, wenn mit Sprache eine bewusst verschleiernde Wertung vorgenommen wird und so zum Beispiel Sachverhalte verharmlost werden. Auch auf das Wort Militärschlag machte die Jury 2021 aufmerksam, weil es euphemistisch verwendet wird: Von einem Schlag kann sich ein Boxer erholen – nach einem Bombenabwurf im Krieg bleibt an der Einschlagstelle kein Leben zurück.

Zum anderen kann Sprache im zwischenmenschlichen Kontext auch herabwürdigend sein. Spätestens dann, wenn Wörter und Redewendungen aktiv Menschen und Menschengruppen diskriminieren, besteht Handlungsbedarf! Dabei muss die Diskriminierung nicht einmal vorsätzlich geschehen, umso wichtiger ist es, für den eigenen Sprachgebrauch zu sensibilisieren. Ein Beispiel sprachlicher Herabwürdigung wäre sogenannte „Hassrede“, die unter anderem durch menschenverachtende Aussagen bezüglich Hautfarbe oder Sexualität definiert ist. Deren Lexemverwendung und syntaktische Struktur kann sprachwissenschaftlich untersucht werden, um über solche Sprachverwendung aufzuklären – mehr dazu erfahren Sie in unserem Blog der nächsten Woche!
Linguistinnen und Linguisten klären auf!
Die Linguistik ist die Forschungsdisziplin, die die Bedeutung, den Bedeutungswandel und auch die Wirkung von Wörtern mit wissenschaftlichen Methoden erfassen und beschreiben kann. Auf dieser Grundlage sind Linguistinnen und Linguisten besonders gut in der Lage, Probleme mit dem Sprachgebrauch zu erkennen, sie in die Öffentlichkeit zu tragen und gemeinsam mit der Gesellschaft Lösungen zu entwickeln. Damit gehört die öffentliche Kommunikation von Forschungsergebnissen und die Beteiligung an gesellschaftlichen Debatten zu den zentralen Tätigkeiten von Sprachwissenschaftlern und Sprachwissenschaftlerinnen.
Linguistisches Aufklären findet dabei nicht nur institutionsgebunden statt. Es entspringt immer auch einem persönlichen Verantwortungsgefühl und eigener Initiative. Einige Berufsfelder tragen jedoch eine besondere Verantwortung für ihre Sprachverwendung. Wer beispielsweise im sozialen, kulturellen oder medizinischen Bereich oder aber auch der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit tätig ist, sollte besonders verantwortungsvoll mit Sprache umgehen (können). Diese Berufsgruppen können besonders von Aufklärungs- und Weiterbildungsangeboten der Angewandten Linguistik profitieren.
Sprachkritisches Aufklären heißt: Sprachbewusstsein schaffen!
Sprachliches Aufklären hat nichts mit Sprachpolizei spielen zu tun. Angewandte Linguistinnen und Linguisten haben kein Interesse daran, die Sprachproduktion zu überwachen und Sprecherinnen und Sprecher für vermeintlich „falschen“ Sprachgebrauch zu bestrafen.

Stattdessen ist es das Ziel der angewandt-linguistischen Forschung, durch Aufklärungsarbeit ein erhöhtes Sprachbewusstsein in der Öffentlichkeit zu erzielen. So kann für Problembereiche sensibilisiert und gesellschaftlicher Dialog zur Problemlösung angestoßen werden. Dabei ist neben der Angewandten Linguistik auch die Gesellschaft selbst verantwortlich, die Sensibilisierung anzunehmen und ggf. in den eigenen Sprachgebrauch zu integrieren.

Die Autorin:
Jule Beck studiert im vierten Bachelorsemester Germanistik. Neben der Literatur fasziniert sie auch die deutsche Sprache an sich. Als Bachelorstudentin hört sie oft die Frage, was sie mit einer linguistischen Ausbildung denn überhaupt anfangen könne. Sprachliches Aufklären ist eine von vielen guten Antworten auf diese Frage!