Ein Projekt aus dem Tätigkeitsfeld Diagnostizieren und Therapieren
Haben Sie schon einmal etwas durch die rosarote Brille gesehen? Täglich schwirren uns Wörter und Ausdrücke im Kopf herum, die uns unbewusst im Alltag auf der Zunge liegen und mit denen wir beim Artikulieren unserer Gefühle den Nagel auf den Kopf treffen. Denn durch sie können wir unsere Emotionen oft besser an den Mann beziehungsweise die Frau bringen und unsere inneren Zustände zielgerichteter und effizienter ausdrücken. Die Schlüssel dazu sind Metaphern und sprachliche Bilder.
Um innere Zustände und mentale Empfindungen sprachlich zu äußern, werden sie mit verschiedensten Mitteln verbalisiert. Dies geschieht mit unterschiedlichen sprachlichen Mitteln und Verfahren, wie beispielsweise durch prosodische Mittel, grammatische Formen, lexikalische oder figurative Mittel, wie zum Beispiel Metaphern. Wie bereits gesagt, werden Metaphern häufig im Alltag verwendet. Allerdings sind sie zugleich die komplexeste Weise, um die eigenen Emotionen sprachlich zu transportieren und deshalb braucht es die Angewandte Linguistik, um dem Ganzen auf den Grund zu gehen.
Verarbeitung von bildlicher Sprache bei Patientinnen und Patienten mit Depressionen
Depressive Verstimmungen und Depressionen äußern sich auf vielfältige Weise, unter anderem durch eine Verringerung von Interesse, Motivation und Vergnügen. Da Sprache und emotionales Erleben stark miteinander verknüpft sind, kann die Hypothese aufgestellt werden, dass Menschen mit Depressionen bei der Verarbeitung von figurativer Sprache Schwierigkeiten bis hin zu Funktionsstörungen haben könnten. Dabei ist die Versprachlichung von Emotionen eine lebensweltliche Schlüsselkompetenz, bei der solche Funktionsstörungen den Alltag erheblich beeinträchtigen könnten. Daraus entsteht die Notwendigkeit für Angewandte Linguistinnen und Linguisten, diese Annahme wissenschaftlich zu erforschen beziehungsweise zu überprüfen, um aus den Ergebnissen innovative Impulse für diagnostische und therapeutische Verfahren zu gewinnen. Dieser Aufgabe widmet sich das Projekt “Durch die rosarote Brille gesehen: Die neuronale Verarbeitung sprachlicher Ausdrücke für innerpsychische Zustände mit figurativen und nicht-figurativen Mitteln”.
Am Projekt sind maßgeblich Prof. Dr. Christina Kauschke sowie Prof. Dr. Arne Nagles und Nadine Müller beteiligt, die interdisziplinär die Bereiche Logopädie, Linguistik und Psychologie vertreten. Es wurde, finanziert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz auf die Beine gestellt, startete im Dezember 2017 und wird, nach achtzehnmonatiger Verlängerung, voraussichtlich im September 2022 abgeschlossen sein. Als grundlegendes Korpus des Projekts dient die MIST-Datenbank (Metaphors for Internal State Terms). Diese stellt eine Sammlung kontrollierter Stimuli für experimentelle Metaphernforschung bereit.
Zwei methodische Ansätze: Satzvervollständigung und Sprachproduktion
Im Zentrum des Projekts stehen Patientinnen und Patienten mit einer klinischen Depression sowie deren Nutzung und Verarbeitung von Metaphern und anderer bildlicher Sprache für Gefühle und mentale innere Zustände. Alle beteiligten Patientinnen und Patienten der Studie haben Depressionen nach den ICD-10 Kriterien und nehmen zudem Antidepressiva oder Stimmungsaufheller. Um Vergleiche ziehen zu können, gibt es eine Kontrollgruppe, bestehend aus Personen ohne diagnostizierte Depressionen. Außerdem sind alle Teilnehmenden Muttersprachlerinnen und -sprachler des Deutschen. Beim methodischen Aufbau des Forschungsprojektes werden zwei verschiedene Ansätze verfolgt. Bei der ersten Aufgabe müssen die Teilnehmenden Sätze vervollständigen. Die Sätze können nach vier alternativen Möglichkeiten ergänzt werden. Diese werden anhand des folgenden Beispiels exemplarisch dargestellt:
“Sie stieg in das fremde Auto. Das war …”
● blauäugig → angemessene bildliche Vollendung des Satzes
● naiv → angemessene wörtliche Vollendung des Satzes
● wachsam → unabhängige Ablenkung
● primitiv → in der Nähe der semantischen Ablenkung
Als Ergebnis dieser ersten Aufgabe muss festgehalten werden, dass sich keine signifikanten Unterschiede zwischen den beiden Gruppen feststellen ließen. Beide bevorzugten wörtliche Ausdrücke (ca. 60%) gegenüber Metaphern (40%) bei der Ergänzung der Sätze.
Im zweiten Experiment wird die Sprachproduktion der Teilnehmenden angeregt. Hierbei stellten sich eine neue Gruppe von Patientinnen und Patienten mit Depressionen nach ICD-10 Kriterien und eine Kontrollgruppe aus Teilnehmenden ohne Depressionen der Aufgabe, Sprache eigenständig zu produzieren. Um die Sprachproduktion auszulösen, wurde der thematische Apperzeptionstest (TAT) verwendet. Dieser wurde bereits 1936 entwickelt und wird noch immer als Persönlichkeitstest oder in der Motivationspsychologie genutzt. Die Anforderung des Tests besteht darin, mehrdeutige und emotional geladene schwarz-weiße Bilder sprachlich zu beschreiben.
Im Projekt mussten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer innerhalb von drei Minuten zu sieben von vierzehn Bildern, die willkürlich ausgewählt wurden, ihre eigenen Assoziationen äußern. Bei Bedarf griff der Interviewende unterstützend ein. Das Experiment ergab, dass die Sprachproduktion bei der Gruppe von Patientinnen und Patienten geringer war. Die Verbalisierung innerer Zustände unterschied sich bei genauer Analyse der Ergebnisse allerdings nicht. Beide Gruppen zeigten einen ähnlichen Gebrauch von Metaphern. Auffällig war allerdings, dass bei der Gruppe der depressiven Teilnehmenden weniger positiv über innere Zustände gesprochen wurde.
Von den empirischen Ergebnissen zum praktischen Nutzen
Obwohl sich die eingangs formulierte Annahme nicht vollumfänglich bestätigt hat, liegt der Zugewinn des Projekts vor allem in der Erforschung von Sprache, Versprachlichungsstrategien und emotionalem Erleben. Durch das Projekt sollen Kenntnisse über die Nutzung und Repräsentation figurativer Sprache im Gehirn erzielt werden. Zudem soll Wissen über neurobiologische Grundlagen der Sprachverarbeitung und der inneren Emotionszustände gesammelt werden. Zum einen können durch die Ergebnisse des Projekts perspektivisch neue Ansätze in der Therapie geschaffen werden, zum anderen können sie klinisch für eine zielgruppengerechte Aufklärungsarbeit sowie für den gezielten Einsatz von Metaphern in Therapien genutzt werden. So sind Angewandte Linguistinnen und Linguisten daran beteiligt, Forschungsergebnisse zu generieren und auf dieser Basis innovative Therapiekonzepte zu entwickeln.
Neugierig geworden? Mehr Informationen gibt es auf der Projekt-Homepage zu „Durch die rosarote Brille gesehen“!
Die Autorinnen:
Yvonne Luksch studiert Gymnasiallehramt mit den Fächern Deutsch, Geschichte und Sozialkunde und möchte durch die Vermittlung von Sprache das Interesse der Schülerinnen und Schüler an der deutschen Literatur und Kultur wecken.
Friederike Schmidtmann studiert Gymnasiallehramt mit den Fächern Deutsch, Geschichte und Sozialkunde mit dem Ziel, Schülerinnen und Schülern Deutsch so alltagsnah wie möglich zu vermitteln.
Franziska Schulte studiert Gymnasiallehramt mit den Fächern Deutsch und Geschichte und arbeitet gleichzeitig als Hilfskraft am Lehrstuhl für Sprachwissenschaft. Sie hatte so viel Freude beim letzten Blogprojekt, dass sie auch bei dieser nächsten Runde dabei sein wollte!