Sprache lernen – Sprache leben

Angewandte Linguistik und das Tätigkeitsfeld Diagnostizieren und Therapieren. Ein Interview mit der Sprachheilpädagogin und Sprachtherapeutin Martina Barthold.

16.000 Wörter sprechen wir durchschnittlich pro Tag. 16.000 Wörter, die uns Menschen miteinander verbinden, unsere Beziehungen zueinander vereinfachen und das alltägliche Leben in einer Gesellschaft ermöglichen.

Doch es gibt einige Personengruppen, denen das Sprechen deutlich schwerer fällt: In Deutschland leidet jedes dritte Kind im Vorschulalter an einer Sprachstörung und auch Erwachsene haben mit Einschränkungen verschiedener Schweregrade zu kämpfen. Doch zum Glück können hier wieder Linguistinnen und Linguisten helfen!

Erkennen und Handeln

Manchmal haben Eltern den Eindruck, dass die Sprachentwicklung ihres Kindes anders verläuft als die der Gleichaltrigen. Bisweilen bedarf es aber auch des geschulten (und behutsamen) Rates von Erzieherinnen, Erziehern oder Ärztinnen und Ärzten, um Eltern auf Sprachentwicklungsstörungen ihrer Kinder aufmerksam zu machen. Doch auch bei Erwachsenen lassen sich Störungen in der Sprech- und Sprachanwendung feststellen. Dabei können die Ursachen beispielsweise ein Schlaganfall, ein Schädel-Hirn-Trauma oder andere Phänomene sein, welche durch medizinisches Fachpersonal erkannt werden müssen. Hier helfen Angewandte Linguistinnen und Linguisten bei der Erfassung der Sprachprobleme: Handelt es sich um Aussprache- oder Wortschatzprobleme? Welche Laute und Wortkategorien sind betroffen?

Besonders die klinische Linguistik wirkt an der Diagnostik von Sprachstörungen mit, aber auch die Psycho- und Neurolinguistik spielen in der Forschung eine große Rolle. Bei der Diagnose greifen die Sprach- und Sprechexpertinnen und -experten dann auf Forschungsergebnisse aller linguistischen Teildisziplinen von Phonologie über Syntax bis hin zur Lexik zurück.

Über die Diagnose zur Therapie

Sowohl als Unterstützung bei einer Diagnose, als auch beim Erstellen einer Sprachtherapie, sind Angewandte Linguistinnen und Linguisten gefragt. Bei der Entwicklung einer Therapie muss konkretisiert werden, auf welche Sprachsystemebenen sich die Störung bezieht, und es müssen dementsprechend Therapieeinheiten erstellt werden. Um die Erfolgsaussichten noch weiter zu steigern, werden die von Linguistinnen und Linguisten mitentwickelten Therapien von speziell geschulten medizinisch-therapeutischen Berufsgruppen wie Logopädinnen und Logopäden oder Sprachheiltherapeutinnen und -therapeuten durchgeführt.

Anwendungsbereich Sprachheiltherapie

Um nun einen realistischen Einblick in das Tätigkeitsfeld Diagnostizieren und Therapieren zu bekommen, hat Martina Barthold einige Fragen rund um ihren interessanten Beruf beantwortet. Sie arbeitet als Sprachheilpädagogin und Sprachtherapeutin und promoviert momentan zu sprechmotorischen Störungen. Wir haben sie nach den Aufgaben als Sprachtherapeutin, den häufigsten Diagnosen und möglichen Behandlungsmethoden sowie Erfolgen einer Therapie gefragt.

Interview mit Sprachtherapeutin Martina Barthold

Was genau macht deinen Arbeitsbereich aus?

Im Wesentlichen umfasst mein Arbeitsbereich Tätigkeiten, die auch LogopädInnen ausführen. Dazu gehören die Diagnostik und Therapie von Sprech-, Sprach, Stimm- und Schluckstörungen im Kindes- und Erwachsenenalter, auch die Beratung und Anleitung von Angehörigen kann Bestandteil der Tätigkeit sein.

Die Aufgaben von SprachtherapeutInnen sind sehr vielfältig, viele unterschiedliche Arbeitsbereiche und Arbeitsorte sind möglich. Ein großer Anteil der Beschäftigten dieser Berufsgruppe arbeitet in niedergelassenen logopädischen Praxen. Ich hingegen arbeite zum einen in einer Schule und der dazugehörigen schulvorbereitenden Einrichtung für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung. Die Kinder und Jugendlichen werden einzeln aus dem Kindergarten/der Klasse geholt und bekommen meist einmal die Woche eine Stunde Einzeltherapie.

Ein sehr großer und komplexer Bereich! Welche Diagnosen und Einschränkungen treten denn häufig auf?

Bei Kindern ist das häufigste Störungsbild eine „Spezifische Sprachentwicklungsstörung (SSES)“. Diese kann Störungen in den Bereichen Aussprache (Phonetik und Phonologie), Semantik/Lexikon, Grammatik und/oder im pragmatischen Bereich der Sprache umfassen. Bei Erwachsenen treten häufig Sprech-, Sprach- und Schluckstörungen mit neurologischer Ursache auf, zum Beispiel als Folge eines Schlaganfalls oder auch aufgrund von Erkrankungen wie beispielsweise Parkinson.

Welche Methoden der Therapie gibt es in solchen Fällen? Kannst du ein bestimmtes Beispiel nennen?

In der Einrichtung, in der ich arbeite, wird beispielsweise häufig mit der Methode der „Neurofunktionellen Reorganisation“ nach Beatrix Padovan gearbeitet. Dabei handelt es sich um eine ganzheitliche Therapiemethode, die sich besonders für Kinder mit kognitiven Defiziten eignet. Ziel ist es dabei, das Nervensystem und somit auch das Sprachsystem neu zu organisieren und auf diese Weise bestimmte Funktionen zum Reifen zu bringen.

Bei Kindern mit normalen kognitiven Fähigkeiten wird oft die „Patholinguistische Therapie bei Sprachentwicklungsstörungen (PLAN)“ nach Siegmüller und Kauschke durchgeführt. Diese Methode ist ein Baukastensystem und bietet Übungsmöglichkeiten für die sprachlichen Bereiche Phonologie, Grammatik und Semantik/Lexikon.

Wer mehr zur Sprachtherapie nach PLAN erfahren möchte, dem empfehlen wir unseren #galwue21-Blogbeitrag „Wenn das Sprechen schwerfällt…“ von Magdalena Belz und Franziska Schulte!

Wann kann man eigentlich von einer „erfolgreichen“ Therapie sprechen?

Ein kurzfristiges Ziel im Bereich Aussprache kann zum Beispiel die Behebung einer Lautersetzung sein, wenn also ein Kind einen Laut im Wort durch einen anderen Laut ersetzt (z.B. sagt es „Tanne“ statt „Kanne“ oder „leise“ statt „Reise“). Kann das Kind dann den Ziellaut korrekt realisieren, ist das ein Therapieerfolg.

Langfristiges Ziel einer Sprachtherapie ist es jedoch immer, die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen und damit die Lebensqualität der PatientInnen zu steigern. Dies kann zum Beispiel dadurch erreicht werden, dass die Verständlichkeit eines Patienten wiederhergestellt wird und somit auch seine Kommunikationsfähigkeit. Ein anderes Beispiel wäre die Wiederherstellung der Schluckfunktion bei einer Dysphagie. Wenn eine Person nach der Schlucktherapie wieder alle Konsistenzen schlucken kann, ist das ein großer Erfolg: es ermöglicht ebenfalls gesellschaftliche Partizipation, z.B. kann die Person wieder ein Restaurant besuchen.

[Interview leicht gekürzt]

„Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen“. Das nennt Martina Barthold als oberstes Ziel und größten Erfolg einer Sprachtherapie. Therapie soll also die Kommunikation ermöglichen und stärken, denn jedes Gespräch, jeder Satz, jedes Wort verbindet uns Menschen miteinander. Im Bereich Diagnostizieren und Therapieren ist es Aufgabe und oberstes Ziel, Menschen das Kommunizieren zu ermöglichen und somit Sprache zu lernen und Sprache zu leben. Wie wichtig also die Rolle der Angewandten Linguistik für unseren Alltag ist, zeigt sich hier wohl mehr als deutlich!

Die Autorin und der Autor:

Lena Kettritz studiert im sechsten Semester Gymnasiallehramt mit den Fächern Deutsch und Sport und möchte ihren Schülerinnen und Schülern später im Unterricht die schönen Seiten unserer Sprache nahebringen.

Konstantin Flierl studiert im sechsten Semester Gymnasiallehramt mit den Fächern Deutsch und Geographie und möchte bei seinen Schülerinnen und Schülern das Interesse für die eigene und alltägliche Sprache wecken.

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